Wenn man mich anguckt, schiele ich! // Porträt Thorsten Höller vom Team Behinderte CSD Bremen sowie vom Team CSD Bremerhaven

Thorsten Höller ist der Mann hinter der Idee für einen professionellen Shuttle-Service für Behinderte beim CSD Bremen. Er ist der Mann, der jahrelang darauf gedrängt hat, einen CSD auch in seiner Heimatstadt Bremerhaven zu erleben. Er ist der Mann, der darauf besteht, mit Gesunden und Behinderten zusammen zu arbeiten und nicht wegen Lernbehinderung und Langsamkeit in eine Werkstatt für Behinderte abgeschoben werden möchte. Er ist der Mann, dessen Sturheit die Welt, in der sich queere Gesunde in Bezug auf queere Behinderte gemütlich eingerichtet haben, aus den Angeln zu heben scheint. Wer ist dieser Mann?

„Bei meiner Geburt ist wohl etwas schief gegangen,“ vermutet der 46-Jährige. Er ist lern- und sprachbehindert, hat wenig Geduld mit sich und oft Wutausbrüche. Auch fällt es ihm schwer, eine längere Strecke zu Fuß zu gehen. Mit seinem blinden rechten Auge geben sich die Augenmuskeln keine Mühe mehr, weshalb es meist zur Seite driftet. „Wenn man mich anguckt, schiele ich.“ Im Alter von 12 Jahren kam er in ein Heim, wo er sich später als Jugendlicher auch das erste Mal in einen Jungen verliebt hat. „Mein erster Freund“, erklärt er . Inzwischen wohnt Höller in seiner eigenen Wohnung in Bremerhaven, seiner Heimatstadt.

„Früher mussten wir uns verstecken“, sagt Höller. Seine Stimme nuschelt ein wenig, doch seine Gesten spiegeln echte eigene Erfahrungen wider. Mit „wir“ meint er sich und andere Menschen mit Behinderungen. Schwule kennen diese Ängste vor Ablehnung und Verlust. Auch Höller ist schwul, ein schwuler Mann mit Behinderung. Für ihn hat das Gebot, sich zu verstecken, aufgrund seiner Behinderungen eine zusätzlich ablehnende Bedeutung und noch immer eine aktuelle Brisanz.

Als schwuler Mann mit Behinderung beim Christopher Street Day

Als junger Mann entdeckt er die Pride-Saison für sich und reiste leidenschaftlich gern in die verschiedenen Städte, wie Köln, Berlin und Hamburg zum Christopher Street Day (CSD). Zum einen weil er politisch interessiert ist, aber vor allem auch weil er leidenschaftlich gern Bus und Bahn fährt. „Schon als kleiner Junge bin ich deswegen ausgebüchst“, erinnert er sich. „Die Busfahrer in Bremerhaven kannten mich schon.“ Doch das Pride-Hopping stellte ihn vor eine neue Herausforderung: „Mir fiel auf, dass Menschen wie ich nicht teilnehmen können.“ Statt bei der Demo mitzulaufen, musste er am Rand stehen bleiben. „Aber das ist nicht dasselbe“, sagt er und schlägt zur Unterstreichung seiner Worte die Hände auf seine Knie.

Da es aus Sicherheitsgründen ist es leider verboten ist, während der Demo von einem Musik-LKW auf- und abzusteigen, hätte er gesamte Demo mitfahren müssen. „Ich wollte aber nicht bloß mitfahren“, sagt Höller. „Bei einer Demonstration muss man mitlaufen, das gehört dazu und das ist mir wichtig.“ Das Herz eines jeden CSD ist es, für die Akzeptanz als queerer Mensch zu demonstrieren und sich zu zeigen. Und genau das wollte Höller auch: Als schwuler behinderter Mann wollte er sich nicht länger verstecken.

Thorsten Höller im CSD-Verein in Bremen dabei seit 2017

Seit April 2017 ist Höller deshalb bei jedem Treffen des Vereins CSD Bremen dabei. Für die Termine fährt er jedes Mal von Bremerhaven nach Bremen. Er sagt nicht viel und wenn er etwas sagt, findet er zunächst keine Beachtung. Doch er bleibt hartnäckig und tritt sogar dem Verein bei. „Das sitze ich aus“, sagt Höller und grinst, „wie immer.“

Irgendwann findet Thorsten Gehör bei seinen Mitstreiter*innen für den CSD in Bremen. „Thorsten möchte bei der Pride-Demo dabei sein, ohne die ganze Strecke laufen zu müssen. Das war nachvollziehbar. Und wir wollten für Thorsten und für alle anderen in seiner Situation, die gehbehindert sind, eine Lösung finden“, erinnert sich Robert Dadanski, Gründungsmitglied und Vorstand des CSD Bremen e. V. Gemeinsam rufen sie das vereinsinterne „Team Behinderte“ ins Leben und begründen eine bis heute lebendige Kooperation mit der Bremer Straßenbahn AG (BSAG).

Hop-on-Hop-off Bus-Shuttle-Service extra zur Bremer Pride-Demo

„Einfach ein Shuttle-Service der BSAG!“ Höller ist stolz auf das Ergebnis. Seit 2018 gibt es einen Bus, der eigentlich nur für drei Monate die Regenbogenfarben tragen sollte. „Jetzt fährt er das ganze Jahr in Bremen damit.“ Jedes Mal, wenn Höller ihn irgendwo in Bremen sieht, fotografiert er den Bus und postet das Bild auf seinem facebook-accountDieser schöne Pride-Bus fährt seitdem jedes Jahr beim Bremer Pride mit und alle, die nicht laufen wollen oder können, werden in die Lage versetzt, trotzdem auf der Demostrecke dabei zu sein.

„Das Prinzip ist einfach“, erläutert Dadanski. „Wenn jemand auf der Demo nicht mehr zu Fuß mitlaufen kann, bleibt diese Person einfach am Rand stehen. Da der Bus am Schluss der Demo fährt, kann er die betreffende Person auf Wink einsteigen lassen.“ Ein tolles Konzept, das den Bremer CSD zu einem der inklusivsten Pride-Demos in der Bundesrepublik macht. Das bestätigt auch Peter Hölscher, Vorstandsvorsitzender des queerhandicap e. V. , Bundesverband queerer Menschen mit Behinderungen bei seinem Besuch des CSD Bremen 2019. “Ich muss euch sagen, dass bei all den CSDs auf denen ich in Deutschland gewesen bin, und ich war bei sehr vielen CSDs, ich bei keinem anderen CSD so viele Menschen mit Behinderung gesehen habe, wie bei euch in Bremen”, sagt Hölscher, und weiter: “Sowas passiert nicht einfach so; ihr habt mit eurem Team Behinderte sehr gute Arbeit für uns Behinderte geleistet”.

Ein Prädikat, das der Bremerhavener CSD sich noch verdienen muss: „Das, was ich für Bremen erreicht habe, möchte ich auch für Bremerhaven erreichen“, sagt Höller und ergänzt, „und ich gebe nicht auf.“

Mitinitiator des ersten CSDs in Bremerhaven 2022

Einen CSD in Bremerhaven, Höllers Heimatstadt, war sein größter Wunsch und dennoch vergingen abermals Jahre, in denen er jedes Treffen des Vereins in Bremen mit dem Satz schloss: „Wir müssen auch mal einen CSD in Bremerhaven auf die Beine stellen!“

Seiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass die Bremer*innen 2020 ihren Blick auf die Seestadt richteten. Anlass war außerdem eine Gruppe junger Bremerhavener*innen, die sich als „Queer Fischtown“ (QF) neu formiert und im Vorfeld des CSD Bremen 2020 die große Malaktion einer Queerflagge auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofs durchgeführt hatten.

Obwohl der Bremer Mutterverein seinen Namen extra erweitert hat und 2021 aus „CSD Bremen e. V.“ der Verein „CSD Bremen + Bremerhaven e. V.“ geworden ist, haben es sich QF und Höller vor allem wegen Corona zunächst nicht zugetraut, einen eigenen CSD in der Seestadt 2021 durchzuführen. Gemeinsam mit QF initiierten die Bremer*innen daraufhin ein neues und eigenständiges „Team CSD-Bremerhaven“. An dem insgesamt zwölfköpfigen Orga-Team haben sich vier Personen von der Jugendgruppe Queer Fischtown beteiligt.

Darüber hinaus bestand das erste Team für den CSD in Bremerhaven 2022 aus Bremer*innen und Bremerhavener*innen. Neben unserem Bremerhavener Mitorganisator Thorsten Höller haben insbesondere die Bremer Vorstände, Robert Dadanski und Olaf Grotheer, sowie IT-Experte Sven Meyer ihr Know How und die nötige Infrastruktur zur Verfügung gestellt, sogar selbst vor Ort tatkräftig angepackt. „Ohne sie hätte es keinen ersten CSD in Bremerhaven gegeben“, ist Höller überzeugt.

Am 09. Juli 2022 war es dann soweit. Der erste CSD in Bremerhaven zog mit mehr als 1000 Teilnehmenden durch die Seestadt – „Das war ein tolles Gefühl, zuhause einen eigenen CSD zu haben!“, sagt Höller und wird im nächsten Jahr wieder dabei sein.

Inklusiver Arbeitsplatz bei Queer Cities e.V. in Bremen

Aktuell hat Höller sich jedoch in ein neues, noch wichtigeres Abenteuer gestürzt: Er möchte „richtig arbeiten“, zusammen mit Gesunden. Dazugehören und sich zudem für eine gute Sache einsetzen. Er möchte nicht länger in einer Behinderten-Werkstatt arbeiten, in der er sich abgeschoben fühlt. Dass er „richtig“ arbeiten möchte, ist eine Idee, die ihn begleitet seit Anfang Februar 2022 und er für den damals neuen gemeinnützigen Queer Cities e.V. ehrenamtlich arbeitete, sogar seinen Urlaub opferte er für die Pflege und Aufbau internationaler Städtepartnerschaften, etwa zu queeren Organisationen in Stettin und Danzig. Als plötzlich der Krieg in der Ukraine begann, erweitert der noch junge gemeinnützige Verein spontan seinen Schwerpunkt und sammelt seitdem Spenden für Ukraine-Geflüchtete, die durch seine LGBTIQ* Partnervereine in Polen verteilt werden, wo sich über 80% aller ukrainischen Geflüchteten aufhalten. Die Organisationen, die Queer Cities e.V. in Polen unterstützt, sind nach und nach wichtige Ansprechpartner*innen für die Kommunen geworden mit der Folge, dass sich das Ansehen der in Polen zuvor ignorierten queeren Gruppen seitdem verbessert.

Der neue inklusive Online-Shop von Queer Cities

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Da sich Thorsten unentbehrlich gemacht hat, ist für ihn zunächst ein Praktikumsplatz bei Queer Cities e.V. entstanden. Höller leistet hierfür unterstützende Arbeit, wie etwa leichte Sekretariatsarbeiten, Post, Telefondienst, Botengänge und Post stempeln. Es soll ein Weg gefunden werden, seinen Arbeitsplatz zu erhalten und für Höller beim Verein Queer Cities e.V. eine feste Stelle zu schaffen.

Neu entstanden ist dazu beispielsweise die Idee eines inklusiven Online-Shops, der zum einen den Bedarf an queeren Merch-Artikeln für Pride-Fans deckt, aber auch Höllers verantwortliche Mitarbeit erfordert. Der neue Online-Shop ist so erfolgreich, dass er bereits fünf Monate von Höllers Gehalt finanzieren kann (Stand September 2022). Doch das ist eine andere Geschichte.